Das Problem der Form in der bildenden Kunst

Auf Hildebrands gedankendichte Schrift "Das Problem der Form in der bildenden Kunst" wurde schon im Kapitel über sein Leben hingewiesen. Dem Kunsthistoriker Heinrich Wölfflin, der die Schrift genau las und der sie als "erfrischenden Regen auf dürres Erdreich", bezeichnete, genügte ein einziger, lapidarer Satz, um ihren Inhalt zusammenzufassen: "Das Kunstwerk muss augengerecht sein". Nach diesem Buch - so Wölfflin - seien viele seiner Hörer überzeugt, dass sie für ihr Kunstverständnis eine neue Basis suchen müssten. Auch viele Bildhauer stimmten zu. Die wichtigsten Gedanken daraus seien hier zur Schärfung des Blicks auf Hildebrands künstlerische Ziele und entsprechend geformte Werke dargelegt.


Hildebrand hat nach der damals neuesten Wahrnehmungstheorie diejenigen Wahrnehmungsvorgänge, die für Bildhauer und ihre besondere Aufgabe, das Werk augengerecht zu machen, von Belang sind, ausführlich analysiert, unterstützt durch das ständige Gespräch mit Fiedler. Er wies u.a. hin auf den Unterschied zwischen zwei Arten des optischen Erfassens eines Gegenstandes: das aus der Nähe und das aus der Ferne. Die Dreidimensionalität eines Objektes wird nur durch das Umschreiten und/oder durch das Abtasten der plastischen Einzelheiten aus grosser Nähe erfasst. Auch unser Auge ist dann mit seinen Tasteigenschaften tätig.Der Bildhauer, der die so ertasteten Einzelformen zu einer Gesamtformvorstellung verarbeiten muss, hat noch anderes zu leisten als der Maler. Für diesen ist der Umriss entscheidend, wenn er seinen dreidimensionalen Gegenstand augengerecht, wie für Fernsicht, machen will. Für den Betrachter von Skulpturen, vor allem im öffentlichen Raum - wo sie nicht zum Umschreiten und Bewundern als ästhetische Objekte aufgestellt sind - ist die Fernsicht die übliche. Hier arbeitet das Auge anders: es sieht einen oder mehrere Gegenstände nicht völlig dreidimensional sondern reliefhaft. In diesem reliefhaften Fernbild sind nur die für das Erkennen wesentlichen Züge einer Figur, unter Wegfall von mancherlei nicht unbedingt notwendigen Details, wie zu einem Bild zusammengeschlossen. Dieser Eigenart hat der Bildhauer gerecht zu werden. Er muss statt der in der Nahsicht erfaßbaren, detailreichen, ja oft unübersichtlichen Daseinsform einer Figur die plastische Wirkungsform von Denkmalen oder Reliefs auf Plätzen, in Parks, auch im privaten Bereich und in Museen, finden und herstellen. Er muss alles vermeiden, was das Werk dem Fernblick verunklärt. Er muss vermeiden, dass eine Vielfalt von Bewegungen, ausladenden Gesten, verunklärenden Überschneidungen, auch unnötig Schatten werfenden Vor- oder Rücksprüngen den Eindruck verwirrt. Kurz: die Umwandlung einer Daseinsform in eine Wirkungsform ist die Aufgabe des Künstlers.


Die Wirkungsform ist reliefhaft, bildhaft: wenn der Bildhauer dieser wahrnehmungsphysiologischen Tatsache unseres Sehapparats folgt, muss er manche plastischen Details seiner Figuren entsprechend flacher machen. Wie sieht aber dieses Flachmachen bei der Komposition einzelner Figuren aus? Manche zu sehr in den Raum vorstossende Rundung (Schulter, Gelenk) muss flacher, manche Bewegung weniger ausladend gestaltet werden als ihre Daseinsform ist. Auch wird das Flacherwerden dadurch erreicht, dass die Vorstellung während der Arbeit stets einen gedachten, unsichtbaren Raumblock beachtet, dem sich die Figur einordnet und über dessen Grenzen sie nirgends hinausragt. Dieser unsichtbare Raumblock kann vom Betrachter dann sogar als der zur Figur gehörige Raum erlebt werden.

Für Hildebrand lag die künstlerische Bedeutung und eindrucksstarke Wirkung der von ihm genau studierten alten griechischen und Renaissancebildwerke darin, dass das durch den begrenzten Steinblock bedingte Verfahren - das von Michelangelo eindringlich in einem Sonett beschriebene schichtweise Heraushauen der Figur aus dem Stein, als tauche sie aus einem ganz langsam abgelassenen Wasser auf - durchweg eingehalten war. Er sah daher auch die Steinbildhauerei (ohne Punktieren) als das vornehmste Verfahren für einen Bildhauer an. Es setzt die genaueste Konzeption, die präzise Vorstellung von der Form des Werks, also die eigentliche künstlerische und das heisst geistige Leistung voraus. Erst danach kann der Künstler mit den Händen diese ständig visuell ihm vorschwebende Arbeit ausführen. Ein Kapitel von Hildebrands Schrift ist allein der Steinarbeit gewidmet. Dies alles lehren zu können, war der einzige Grund für die Annahme der Professur in München. Die Kunstkritik spottete über die "Reliefauffassung": eine flachgemachte Rundfigur sei soviel wie hölzernes Eisen. Spätere Voreingenommenheit wies bei manchem seiner Werke fast nur auf das reliefhaft Gestaltete, z.B. im Wittelsbacher und im Straßburger Brunnen. Man sah in ihnen nur eine Erfüllung von Hildebrands eigenen theoretischen Forderungen und übersah die plastische Wucht und Fülle der zwar in der Gesamtkomposition für Fernsicht angelegten, aus der Nähe aber kraftvoll und rundplastisch geformten Einzelgruppen, ebenso wie die stets in den Raum ausgreifende und ihn gestaltende Komposition seiner städtebaulich wohlüberlegten Brunnen-, Denkmal- und Platzanlagen.

 

Die Bedeutung der Schrift "Das Problem der Form ..."
Der heutige Leser kann, mehr als 100 Jahre nach Erscheinen der Schrift, die besondere Leistung Hildebrands erkennen. Sie besteht - ausser in dem schon Angedeuteten - darin, dass seine an Fiedler orientierte Analyse des künstlerischen Schaffensprozesses die geistleibliche Vielschichtigkeit jeglicher und also auch der künstlerischen Tätigkeit zeigt. Diese erweist sich als ein stufenweiser Aufbau aus organisch bedingten, psychologischen und geistigen Prozessen, die erst die Umsetzung und die vom Künstler zu leistende Neuformung optischer Eindrücke zum Kunstwerk ermöglicht. Er hat, freilich ohne es so genau zu formulieren wie wir es heute mit anders ausgerichtetem Denken können, erstmals den festen Ort und die differenzierte Verankerung der "Kunst" in einer Seinsordnung aufgewiesen, in der Naturgesetzlichkeiten unsere seelische und geistige Tätigkeit steuern. Kunst und künstlerische Tätigkeit galt Hildebrand nie als Luxus sondern als ein dem Menschen eingeborenes Bedürfnis. Er hat gezeigt, dass ihr Ort in der menschlichen Natur fassbar ist.

 

Indem er mit Fiedler darauf wies, dass die seinsmässige Grundlage für alle Gattungen der Kunst die gleiche ist, war nun auf neuer Bewusstseinsebene der jahrhundertelange, nicht nur theoretische Streit um den Vorrang der Künste gegenstandslos geworden. Sie alle erwachsen aus Formvorstellungen, die sich aus unseren Erfahrungen mit der Natur in und ausser uns bilden und vom Künstler zu einer neuen Ganzheit geeinigt werden, ehe er mit der jeweils seinem Metier entsprechenden Verwirklichung beginnt. In solcher Einordnung der Kunst in menschlich organische Lebensvorgänge bedeutete die Einbeziehung der Aufnahmefähigkeit des Betrachters in den Gestaltungsvorgang (zwecks "Augengerechtigkeit") gleichfalls Neuland. Sie führte damals in der Tat zu einer Kunst, die sich auf grössere Einfachheit und tektonisches Denken besann. Diese wahrnehmungspsychologische Seite seiner Theorie kann heute als der erste, nicht unwichtige Schritt gesehen werden, hin zu jenen Künstlergruppen, die mit der Interaktion zwischen Werk und Betrachter sogar ein monochromes Bild eines Künstlers als Vehikel einer gesteigerten Sensibilität für die Beziehung sieht, die es selbst mit Wand, Boden und Licht aufnimmt und von deren Beschaffenheit es beeinflusst ist; die andererseits den Betrachter je nach dessen Beschaffenheit oder Situation in sich verändernde Beziehung zum Werk eines Künstlers setzt. Auf eben dieser Beziehung zu ihrer Umgebung beruhte die Qualität und Einmaligkeit der Schöpfungen Hildebrands, was vielleicht heute ein sensibilisiertes Publikum neu zu sehen und zu verstehen lernt.

 

Im Anhang dieser Website findet sich der ungekürzte Text von Hildebrands Schrift "Das Problem der Form in der bildenden Kunst", dritte verbesserte Auflage, Straßburg 1901, Heitz & Mündel.