Arbeit u. Leben

Geboren wurde Hildebrand in Marburg als fünftes von acht Kindern des Nationalökonomen Bruno Hildebrand. Dieser hatte mit 14 Jahren seine Ausbildung selbst in die Hand genommen, war nach dem Studium von Philosophie, Geschichte und Philologie mit 27 Jahren Professor für alte Geschichte an der Universität Breslau geworden, wurde zwei Jahre später als Ordinarius für Staatswissenschaften an die Universität Marburg berufen, war als Führer der Liberalen Partei, dort von einem Hochverratsprozess bedroht, in die Schweiz geflohen, wurde Professor an der T.U. Zürich, wo er ausser einer Leih- und Sparkasse auch das erste schweizerische Eisenbahnunternehmen gründete und leitete, ebenso wie er es später von der Universität Jena aus in Thüringen ins Werk setzte. In diesem Elternhaus wurde dem Sohn das Nachdenken und das Diskutieren über Philosophie und die Grundprobleme jeder Tätigkeit zur Selbstverständlichkeit.
Der Vater ließ seinen Sohn ebenso selbständig sich entwickeln, wie er es getan hatte. Adolf hat das Wanderleben seiner Eltern von Marburg nach Bern, dann Zürich und zurück nach Deutschland - Jena - in seinen Jugenderinnerungen geschildert. Sechzehnjährig begann er eine anderthalbjährige Ausbildung an der Kunstgewerbeschule in Nürnberg, die er jedoch gelangweilt verliess, um sich in München selbständig weiterzubilden. Dort hatte er Ende 1866 ein Vierteljahr lang einen Arbeitsplatz im Atelier des Münchner Bildhauers Caspar von Zumbusch, der später Hofbildhauer in Wien wurde. Zumbusch - damals 36 Jahre alt - nahm ihn 1867 mit auf eine Studienreise nach Italien.

 

In Italien
In Rom lernte Hildebrand den zehn Jahre älteren Maler Hans von Marées kennen und durch ihn den sechs Jahre älteren Juristen und Philosophen Konrad Fiedler, mit dem ihn später eine enge Freundschaft verband. Das Zusammentreffen dieser drei Männer war eine Sternstunde für die Kunst. Der intensive Gedankenaustausch zwischen Ihnen führte den noch von keinem Vorurteil belasteten Hildebrand zu jener wohlbegründeten Kunstauffassung, mit der er den formal ausufernden Tendenzen seiner Zeit entgegentrat. Fortan bezeichnete er sich selbst als den Schüler von Marées, "dem allein er seine künstlerischen Anschauungen verdanke". Die Darstellungsregeln von Marées, die sich so genau wohl erst in diesem Dreiergespräch formten, wurden zum Teil auch die von Hildebrand. Angeleitet von Marées war er überzeugt, von den alten Meistern der Antike und der Renaissance mehr lernen zu können als von Zumbusch. So blieb er nach dessen Abreise allein für anderhalb Jahre in Rom und bildete sich von nun an weitgehend autodidaktisch in seinem Handwerk, vor allem dem Steinhauen, aus. Es folgte ein von langer Krankheit unterbrochener, fast dreijähriger Aufenthalt in Berlin. In dieser Zeit war er gelegentlich mit kleinen Aufträgen im Atelier von Siemering beschäftigt.

Fiedler, der Hildebrand anfangs unterstützte, und durch ihn zum lebenslangen Mäzen von Marées wurde, gab ihm 1870 den ersten Auftrag: ein Porträt und eine Figur nach eigener Wahl, die heute als "Der trinkende Knabe" in der Nationalgalerie in Berlin steht. Der Bronzeguss dieser Figur führte Hildebrand wieder nach Italien: Venedig, Florenz und schliesslich Neapel zurück. Dort fertigte er im Auftrag des ihm befreundeten Zoologen Anton Dohrn, der soeben - 1873 - die Zoologische Station in Neapel ins Leben gerufen hatte, den zeichnerischen Entwurf für die Fassaden des neuen Instituts, später auch für den Erweiterungsbau.
Damals veranlasste Hildebrand die Ausmalung des Bibliotheksraumes der Station durch Marées. Als Gehilfe und Mitarbeiter wirkte Hildebrand mit an diesen bedeutendsten deutschen Fresken des 19. Jahrhunderts. Von Hildebrand wurden ausser der gemalten, die Fresken rahmenden architektonischen Gliederung des Raumes und dem Figurenfries (Grisaille) unter der Decke auch die vor den gemalten Exedren aufgestellten überlebensgrossen Gipsbüsten der berühmten Antagonisten der menschlichen Entwicklungslehre Charles Darwin und Ernst von Baer sowie der heute verlorene steinerne Fries der Kaminumrahmung gearbeitet.

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An diesem Werk hat Hildebrand nicht nur die Freskentechnik gelernt sondern auch die Lust am Malen. Sie blieb ihm neben der Bildhauerei und dem Interesse an den künstlerischen Problemen des Städtebaus und liess ihn nicht nur die eigenen Häuser sondern auch die von Freunden mit teilweise noch erhaltenen Fresken versehen.
Noch im Jahre 1873 glückte Hildebrand mit Hilfe des Vaters der Kauf und die Einrichtung des aufgelassenen Klosters San Francesco di Paola nahe der Porta Romana in Florenz. Hier wollten er und Hans von Marées gemeinsam wirken. Zunächst lebte auch Conrad Fiedler mit ihnen zusammen. Nach der Trennung von Marées und der Heirat mit Irene Schäuffelen blieb Hildebrand für zwanzig Jahre in San Francesco. Er lebte zunächst von Porträt- und kleineren Architektur- und Denkmalaufträgen und arbeitete ständig, meist ohne Auftrag, an frei erdachten Aufgaben und Möglichkeiten bildhauerischer Gestaltung. Es entstanden dort 16 seiner schönsten, nicht durchweg erhaltenen Einzelfiguren, 15 Reliefs, 84 Porträts, 3 Grabmale und einige kleinere architektonische Arbeiten für Florentiner Freunde. An diesen Werken bildete sich Hildebrand zur meisterlichen Beherrschung der Bildhauerei und ihrer künstlerischen Probleme aus.

Die aus der Praxis gewonnenen Erfahrungen, die nach einer Wiederbegegnung mit Marées (1885) bewusst einsetzende Auseinandersetzung mit dessen Gestaltungsregeln und die Diskussion mit Fiedler führten zur Entstehung von Hildebrands heute wieder beachteter Schrift "Das Problem der Form in der bildenden Kunst". Fiedler, einer der bedeutendsten Analytiker von Kunstwerken und Künstlertätigkeit, hat die wechselnden Bewusstseinsbildungen und -formen und die recht verschiedenen Weltaneignungen durchdacht, zu der unterschiedliche Tätigkeiten die Menschen führen können. Er hat so als gleichberechtigt neben der wissenschaftlichen Welterkenntnis die Leistung des bildenden Künstlers Schritt für Schritt dargelegt, wie sie - auf Grund der besonderen, visuell erkennen wollenden Begabung aus unbestimmten Wahrnehmungen der uns umdrängenden Wirklichkeit nach Klärung verlangend - zu "Gesichtsvorstellungen" und schliesslich zu der körperlichen Aktion der Hand führt, welche diese noch immer ungenauen Vorstellungsbilder zu sichtbarer Klarheit und - in immer entwickelteren Ausdrucksmitteln - zum Reichtum der vielen Möglichkeiten künstlerischer Formung führt. Fiedler veranlasste Hildebrand, die für das plastische Gestalten maßgeblichen speziellen Stufen der Bewusstseinsbildung des Bildhauers darzulegen. Und Hildebrand zeigte in seiner Schrift - aus Selbstbeobachtung - wie es von der Stufe der Gesichts- und Formvorstellungen zur künstlerischen Form der Realisierung kommt und welche praktisch-künstlerischen Folgerungen aus den wahrnehmungsphysiologischen und wahrnehmungspsychologischen Vorgängen für sein Kunstmetier zu ziehen sind. Die Entstehung der Schrift wurde ständig begleitet von der Erprobung der Erkenntnisse in der Praxis. Sie hat die Formung der von da an entstehenden Skulpturen nochmals einigen Veränderungen unterworfen (Einzelfiguren und Reliefs).

 

In Deutschland
Den Anlass, aus der langjährigen Florentiner Isolierung herauszutreten, gab nicht nur die erste Dalmatien- und Griechenlandreise sondern vor allem der grosse Wettbewerb für ein Denkmal des Kaisers Wilhelm I in Berlin. Dieses sollte zugleich das Nationaldenkmal des seit 1871 geeinten deutschen Volkes werden. Hildebrand entwarf dafür in einjähriger Arbeit und unter Beteiligung des jungen Architekten Emanuel la Roche ein Modell, das jedoch vom Kaiser abgelehnt wurde. Es war sein erstes grösseres architektonisches Projekt und wie ein vorweggenommenes Programm seines eigentlichen Arbeitsziels. Das Werk sollte ebenso Hildebrands Ideal: einen den Besucher ganz umschliessenden, kuppelüberwölbten Zentralraum verwirklichen, wie auch einen Bau schaffen, in dem Architektur und Skulptur eine Einheit bilden. Die Skulptur sollte nicht nur als Schmuck figurieren, sondern der Architektur eine Sinnschicht hinzufügen, die wiederum von der Architektur Rahmen und Bedeutungssteigerung erfährt. Hildebrand hatte den Standort für das Denkmal nach stadtkünstlerischen Gesichtspunkten festgelegt.
Von dieser Zeit an spielte bei allen seinen Planungen dies "künstlerische Weiterbilden einer gegebenen Situation", wie er es nannte, eine wichtige Rolle. Immer hatte er, selbst bei der Aufstellung von Einzelfiguren, ein grösseres, womöglich raumübergreifendes Ganzes im Blick. Das unterschied ihn schon damals von den meisten Zeitgenossen und führte auch zu dauerhaft anerkannten Lösungen.

Den ersten öffentlichen Beweis dieser besonderen Begabung konnte Hildebrand 1889 bei der Mitwirkung an dem von der Stadt München ausgeschriebenen Wettbewerb für den später "Wittelsbacher" genannten Brunnen erbringen.

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Anlass dazu war der Abschluss der Arbeiten an der Erneuerung der städtischen Wasserleitung. Seine Skizze wurde zur Ausführung bestimmt. Als Bedingung war an den Auftrag geknüpft, dass Hildebrand mit zweitem Wohnsitz nach München übersiedelte.
Nun begann für den Vierzigjährigen der zweite grosse Lebensabschnitt mit zahlreichen, jedoch nicht internationalen, Aufträgen und Ehrungen, darunter die Verleihung des erblichen Adels. Das Werk des unermüdlich Tätigen war umfangreich. Neben vielen nicht zur Ausführung gekommenen Projekten entstanden nach dem Wittelsbacher Brunnen noch 4 monumentale Stadtbrunnen, 2 einfache Marktbrunnen, 6 Parkbrunnen für private Auftraggeber, auch einige kleine Denkmalbrunnen; ferner 15 Denkmale sehr unterschiedlicher Ausmaße, davon 2 Reiterdenkmale; 38 Grabmale und zu den schon in der Florentiner Zeit gefertigten 84 plastischen Porträts noch 166 (bisher bekannte) weitere. 1901 wurde Hildebrand zum Mitglied der von Prinzregent Luitpold ins Leben gerufenen Monumentalbaukommission in München gewählt und als oft maßgeblicher Ratgeber bei zahlreichen Bauvorhaben des Staates und der Stadt herangezogen. Vor allem der kunstsinnige Kronprinz Rupprecht konsultierte ihn stets. Er wurde nach Fiedlers frühem Tod der bevorzugte Freund und Briefpartner Hildebrands.
1906 wurde Hildebrand gebeten, die Leitung der Bildhauerklasse der Münchner Kunstakademie zu übernehmen. Er nahm die Aufgabe an, um Schüler in der in Kapitel V seiner Schrift dargelegten "meisterlichsten und wahrhaft künstlerischen Form" der Steinarbeit auszubilden. Hildebrand erbat und erhielt eine Sonderregelung: er verzichtete auf das Gehalt, bekam jedoch eine Summe für Steinmaterial, und die Akademie stellte ihm ein Steinatelier im Akademiegebäude zur Verfügung. Er durfte sich seine Schüler aussuchen und hatte keine festgelegte Anwesenheitspflicht. Nach einem leichten Schlaganfall, den er 1910 erlitt und in dessen Folge er nicht mehr in Stein arbeiten konnte, gab er diesen Posten auf.

Die letzten Jahre seines Schaffens waren durch den ersten Weltkrieg vielfach beeinträchtigt. Zwar musste der 67-jährige nicht mehr aktiv daran teilnehmen, doch verhinderte der Krieg die Ausführung zahlreicher Entwürfe und steigerte die Arbeitskosten. Den grossen Umbrüchen der Nachkriegszeit, den Kunstanschauungen der neuen Avantgarden, die die Kunst des ganzen 20. Jahrhunderts auf neue Wege führten, konnte er sich nicht mehr stellen. So verlor sein Werk das Interesse der nächsten Generationen. Am Ende sagte der 70-jährige, bescheiden, als er eine der frühesten der berühmten mittelalterlichen Christus-Johannesgruppen aus der Zeit um 1290 sah: wenn er diese Art von Kunst gekannt und etwas in dieser Art gemacht hätte, wäre er ein grosser Bildhauer geworden.

Geboren wurde Hildebrand in Marburg als fünftes von acht Kindern des Nationalökonomen Bruno Hildebrand. Dieser hatte mit 14 Jahren seine Ausbildung selbst in die Hand genommen, war nach dem Studium von Philosophie, Geschichte und Philologie mit 27 Jahren Professor für alte Geschichte an der Universität Breslau geworden, wurde zwei Jahre später als Ordinarius für Staatswissenschaften an die Universität Marburg berufen, war als Führer der Liberalen Partei, dort von einem Hochverratsprozess bedroht, in die Schweiz geflohen, wurde Professor an der T.U. Zürich, wo er ausser einer Leih- und Sparkasse auch das erste schweizerische Eisenbahnunternehmen gründete und leitete, ebenso wie er es später von der Universität Jena aus in Thüringen ins Werk setzte. In diesem Elternhaus wurde dem Sohn das Nachdenken und das Diskutieren über Philosophie und die Grundprobleme jeder Tätigkeit zur Selbstverständlichkeit.
Der Vater ließ seinen Sohn ebenso selbständig sich entwickeln, wie er es getan hatte. Adolf hat das Wanderleben seiner Eltern von Marburg nach Bern, dann Zürich und zurück nach Deutschland - Jena - in seinen Jugenderinnerungen geschildert. Sechzehnjährig begann er eine anderthalbjährige Ausbildung an der Kunstgewerbeschule in Nürnberg, die er jedoch gelangweilt verliess, um sich in München selbständig weiterzubilden. Dort hatte er Ende 1866 ein Vierteljahr lang einen Arbeitsplatz im Atelier des Münchner Bildhauers Caspar von Zumbusch, der später Hofbildhauer in Wien wurde. Zumbusch - damals 36 Jahre alt - nahm ihn 1867 mit auf eine Studienreise nach Italien.

 

In Italien
In Rom lernte Hildebrand den zehn Jahre älteren Maler Hans von Marées kennen und durch ihn den sechs Jahre älteren Juristen und Philosophen Konrad Fiedler, mit dem ihn später eine enge Freundschaft verband. Das Zusammentreffen dieser drei Männer war eine Sternstunde für die Kunst. Der intensive Gedankenaustausch zwischen Ihnen führte den noch von keinem Vorurteil belasteten Hildebrand zu jener wohlbegründeten Kunstauffassung, mit der er den formal ausufernden Tendenzen seiner Zeit entgegentrat. Fortan bezeichnete er sich selbst als den Schüler von Marées, "dem allein er seine künstlerischen Anschauungen verdanke". Die Darstellungsregeln von Marées, die sich so genau wohl erst in diesem Dreiergespräch formten, wurden zum Teil auch die von Hildebrand. Angeleitet von Marées war er überzeugt, von den alten Meistern der Antike und der Renaissance mehr lernen zu können als von Zumbusch. So blieb er nach dessen Abreise allein für anderhalb Jahre in Rom und bildete sich von nun an weitgehend autodidaktisch in seinem Handwerk, vor allem dem Steinhauen, aus. Es folgte ein von langer Krankheit unterbrochener, fast dreijähriger Aufenthalt in Berlin. In dieser Zeit war er gelegentlich mit kleinen Aufträgen im Atelier von Siemering beschäftigt.

Fiedler, der Hildebrand anfangs unterstützte, und durch ihn zum lebenslangen Mäzen von Marées wurde, gab ihm 1870 den ersten Auftrag: ein Porträt und eine Figur nach eigener Wahl, die heute als "Der trinkende Knabe" in der Nationalgalerie in Berlin steht. Der Bronzeguss dieser Figur führte Hildebrand wieder nach Italien: Venedig, Florenz und schliesslich Neapel zurück. Dort fertigte er im Auftrag des ihm befreundeten Zoologen Anton Dohrn, der soeben - 1873 - die Zoologische Station in Neapel ins Leben gerufen hatte, den zeichnerischen Entwurf für die Fassaden des neuen Instituts, später auch für den Erweiterungsbau.
Damals veranlasste Hildebrand die Ausmalung des Bibliotheksraumes der Station durch Marées. Als Gehilfe und Mitarbeiter wirkte Hildebrand mit an diesen bedeutendsten deutschen Fresken des 19. Jahrhunderts. Von Hildebrand wurden ausser der gemalten, die Fresken rahmenden architektonischen Gliederung des Raumes und dem Figurenfries (Grisaille) unter der Decke auch die vor den gemalten Exedren aufgestellten überlebensgrossen Gipsbüsten der berühmten Antagonisten der menschlichen Entwicklungslehre Charles Darwin und Ernst von Baer sowie der heute verlorene steinerne Fries der Kaminumrahmung gearbeitet.

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An diesem Werk hat Hildebrand nicht nur die Freskentechnik gelernt sondern auch die Lust am Malen. Sie blieb ihm neben der Bildhauerei und dem Interesse an den künstlerischen Problemen des Städtebaus und liess ihn nicht nur die eigenen Häuser sondern auch die von Freunden mit teilweise noch erhaltenen Fresken versehen.
Noch im Jahre 1873 glückte Hildebrand mit Hilfe des Vaters der Kauf und die Einrichtung des aufgelassenen Klosters San Francesco di Paola nahe der Porta Romana in Florenz. Hier wollten er und Hans von Marées gemeinsam wirken. Zunächst lebte auch Conrad Fiedler mit ihnen zusammen. Nach der Trennung von Marées und der Heirat mit Irene Schäuffelen blieb Hildebrand für zwanzig Jahre in San Francesco. Er lebte zunächst von Porträt- und kleineren Architektur- und Denkmalaufträgen und arbeitete ständig, meist ohne Auftrag, an frei erdachten Aufgaben und Möglichkeiten bildhauerischer Gestaltung. Es entstanden dort 16 seiner schönsten, nicht durchweg erhaltenen Einzelfiguren, 15 Reliefs, 84 Porträts, 3 Grabmale und einige kleinere architektonische Arbeiten für Florentiner Freunde. An diesen Werken bildete sich Hildebrand zur meisterlichen Beherrschung der Bildhauerei und ihrer künstlerischen Probleme aus.

Die aus der Praxis gewonnenen Erfahrungen, die nach einer Wiederbegegnung mit Marées (1885) bewusst einsetzende Auseinandersetzung mit dessen Gestaltungsregeln und die Diskussion mit Fiedler führten zur Entstehung von Hildebrands heute wieder beachteter Schrift "Das Problem der Form in der bildenden Kunst". Fiedler, einer der bedeutendsten Analytiker von Kunstwerken und Künstlertätigkeit, hat die wechselnden Bewusstseinsbildungen und -formen und die recht verschiedenen Weltaneignungen durchdacht, zu der unterschiedliche Tätigkeiten die Menschen führen können. Er hat so als gleichberechtigt neben der wissenschaftlichen Welterkenntnis die Leistung des bildenden Künstlers Schritt für Schritt dargelegt, wie sie - auf Grund der besonderen, visuell erkennen wollenden Begabung aus unbestimmten Wahrnehmungen der uns umdrängenden Wirklichkeit nach Klärung verlangend - zu "Gesichtsvorstellungen" und schliesslich zu der körperlichen Aktion der Hand führt, welche diese noch immer ungenauen Vorstellungsbilder zu sichtbarer Klarheit und - in immer entwickelteren Ausdrucksmitteln - zum Reichtum der vielen Möglichkeiten künstlerischer Formung führt. Fiedler veranlasste Hildebrand, die für das plastische Gestalten maßgeblichen speziellen Stufen der Bewusstseinsbildung des Bildhauers darzulegen. Und Hildebrand zeigte in seiner Schrift - aus Selbstbeobachtung - wie es von der Stufe der Gesichts- und Formvorstellungen zur künstlerischen Form der Realisierung kommt und welche praktisch-künstlerischen Folgerungen aus den wahrnehmungsphysiologischen und wahrnehmungspsychologischen Vorgängen für sein Kunstmetier zu ziehen sind. Die Entstehung der Schrift wurde ständig begleitet von der Erprobung der Erkenntnisse in der Praxis. Sie hat die Formung der von da an entstehenden Skulpturen nochmals einigen Veränderungen unterworfen (Einzelfiguren und Reliefs).

 

In Deutschland
Den Anlass, aus der langjährigen Florentiner Isolierung herauszutreten, gab nicht nur die erste Dalmatien- und Griechenlandreise sondern vor allem der grosse Wettbewerb für ein Denkmal des Kaisers Wilhelm I in Berlin. Dieses sollte zugleich das Nationaldenkmal des seit 1871 geeinten deutschen Volkes werden. Hildebrand entwarf dafür in einjähriger Arbeit und unter Beteiligung des jungen Architekten Emanuel la Roche ein Modell, das jedoch vom Kaiser abgelehnt wurde. Es war sein erstes grösseres architektonisches Projekt und wie ein vorweggenommenes Programm seines eigentlichen Arbeitsziels. Das Werk sollte ebenso Hildebrands Ideal: einen den Besucher ganz umschliessenden, kuppelüberwölbten Zentralraum verwirklichen, wie auch einen Bau schaffen, in dem Architektur und Skulptur eine Einheit bilden. Die Skulptur sollte nicht nur als Schmuck figurieren, sondern der Architektur eine Sinnschicht hinzufügen, die wiederum von der Architektur Rahmen und Bedeutungssteigerung erfährt. Hildebrand hatte den Standort für das Denkmal nach stadtkünstlerischen Gesichtspunkten festgelegt.
Von dieser Zeit an spielte bei allen seinen Planungen dies "künstlerische Weiterbilden einer gegebenen Situation", wie er es nannte, eine wichtige Rolle. Immer hatte er, selbst bei der Aufstellung von Einzelfiguren, ein grösseres, womöglich raumübergreifendes Ganzes im Blick. Das unterschied ihn schon damals von den meisten Zeitgenossen und führte auch zu dauerhaft anerkannten Lösungen.