Einzelfiguren

Florentiner Zeit

Die 14 erhaltenen Einzelfiguren Hildebrands, die nicht - wie in der Reife- und Spätzeit - in grössere Zusammenhänge eingeplant, sondern als einzelne erdacht und ausgeführt wurden, stammen aus der Zeit des weitgehend autodidaktischen Lernens und Erprobens in Florenz. Bereits die ersten, der trinkende Knabe (Bronze) und der schlafende Hirtenknabe (Marmor), beide 1870-72, dann der selbstvergessen stehende junge Mann (Marmor, Berlin, Nationalgalerie 1881-84), wie auch die Brunnenfigur des Wasser ausgiessenden Jünglings, sind überlegt durchkomponiert und von grosser Perfektion. Beim Umschreiten dieser fein modellierten Knabenkörper zeigen sich von verschiedenen Seiten her überraschend sich wandelnde Ansichten bei stets völlig eindeutig klaren Umrissen und einer Vielfalt von teilweise ganz leisen Achsenverschiebungen. Sie entsprechen dem jahrhundertealten Ideal einer "von allen Seiten" gleich schönen Figur.
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Die Formung dieser und aller späteren Figuren ging von drei Prämissen aus, von den Forderungen, die Hildebrand in den Diskussionen mit den Freunden Fiedler und Marées vor den Kunstwerken Roms als unabdingbare Voraussetzungen für die Vollkommenheit eines Kunstwerks erkannt hatte.

 

1.) galten die von Marées in diesen Gesprächen gefundenen Gestaltungsregeln für den Aufbau eines Bildes oder Reliefs auch für die allseits klare plastische Darstellung des ruhigen wie des bewegten Körpers und seiner Ponderationsprobleme. Letztere konnten die Freunde auch anhand von Leonardos Anweisungen und aufschlussreichen Skizzen in seinem Malereitraktat studieren. Dieser wurde damals durch einen weiteren Freund, den Maler Ludwig in Rom, erstmals ins Deutsche übersetzt und mit ihnen besprochen.

2.) stellte Fiedler die Forderung auf, dass die Formung einer Figur bis ins Kleinste nur das anschaulich zu machen habe, was dargestellt werden soll, bei den beiden frühen Werken also der tiefe Schlaf des Hirtenknaben und das intensive, stille Schlürfen des Trinkenden, beim Stehenden die Selbstvergessenheit. Beim Betrachter dürfe weder ein Vorwissen der mythischen oder historischen Bedeutung des Dargestellten vorausgesetzt, noch dürfe ihm eine auf werkfremden Assoziationen oder auf allerhand kunstvollem Beiwerk beruhende emotionale Bewunderung entlockt werden. So zeichnen sich alle, auch die späteren Menschengestaltungen Hildebrands in weitgehender Unverhülltheit ohne schmückendes Beiwerk durch die stille Intensität aus, mit der sie - in selbstvergessenem, länger dauerndem Innehalten befangen - sich mit voller Konzentration ihrem Tun hingeben: dem Trinken, dem vorsichtigen Tragen oder Ausgiessen eines Gefässes.

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In den späteren, Seelisches stärker veranschaulichenden Darstellungen Musizierender, ist es das Aufsteigen der Töne aus dem Inneren und ihr Erklingenlassen im Instrument. Beispiele sind der Genius Hohenlohe, die Gitarristin des Joachim-Denkmals, der Marsyas, die Cellospielerin auf dem Grab eines Freundes. Zu Recht wurde Hildebrand von dem Enkel Wolfgang Braunfels als Künstler der Stille bezeichnet.

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3.) kamen nach den ersten sprachlichen Formulierungen seiner Gedanken zum "Problem der Form" bei Hildebrand für die Fertigung seiner Figuren die Folgerungen hinzu, die er aus der Reliefauffassung eines Fernbildes und der "Steinarbeit" zog. Damals (1885) schuf er, noch in Florenz, drei Figuren, die diese Konsequenzen deutlich veranschaulichen sollten: Merkur, Kugelspieler und Philoktet.

Oft haben diese Einzelfiguren nur etwa 3/4 Lebensgrösse. Hier zeigt sich bereits
der antimonumentale Zug des Bildhauers im Gegensatz zu der damals schon aufkommenden Tendenz zu national auftrumpfender Monumentalität der Darstellungen und Denkmale des neuen Kaiserreichs.

Es erging ihm wie Dürer, der nach Abschluss seiner "13 Bücher der menschlichen Proportion" schrieb: "Aber so Du wol messen hast gelernt ... als dann ist nit allweg not ein jeglich Ding allweg zu messen... als dann ist die geübt Hand gehorsam."Die späten Figuren Hildebrands, vor allem die für Musiker-Male geschaffenen, wie der Leier spielende Genius für den Fürsten Hohenlohe, aber auch die letzten, die lebensvollen Figuren für die Aussennischen des Hubertusbrunnens (Alter Jäger), zeigen die selbstverständliche, jedoch nie zur Manier gewordene Meisterschaft des grossen Bildhauers, der bis zuletzt für jeden neuen Auftrag, jeden neuen Standort, die diesem allein angemessene Form suchte und fand.

 
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