28.02.2022 09:00
Jüngst erschien am Kunstmarkt dieses kleine und ersten Blickes unscheinbare Gemälde, das sich bei näherer Betrachtung als historisch bedeutsames Kolportagestück zur jüngeren französisch-deutschen Konfliktgeschichte erweist. Gleichzeitig führt die Bildanalyse zur motivischen Umbenennung einer weithin bekannten Photographie Nadars.
Das Gemälde zeigt in eher stumpfer Farbpalette einen Gasballon in niedriger Fahrthöhe nahe von wohl städtischen Gebäuden. Der Ballonkorb trägt zwei Flaggen, die französische Trikolore sowie eine nicht eindeutig erkennbare. Ob der Korb eine Bedienmannschaft trägt, läßt sich nicht ersehen. Vor den Gebäuden und jenseits einer Mauer im Vordergrund sind Baumstämme aufgeschichtet, vermutlich zur Errichtung von – siehe hier weiter unten zur Belagerung von Paris – Barrikaden dienend. Auf diese Holzstöße steigen Militärs in blauen Uniformröcken, einzelne tragen einen Degen. Derweil lehnen zivile Zuschauer aus den Fenstern zweier Gebäude, die mit ihren Pultdächern samt Gaupen angebaut sind an ein hoch aufragendes, seinerseits nahezu fensterloses Bauwerk. Die topographische Situation läßt sich nicht zuletzt anhand einer Photographie Nadars (Félix Tournachon) von 1870 als die Place St. Pierre auf dem Montmartre in Paris identifizieren (Abb. 1). Von dort stiegen seit Herbst 1870 bemannte Ballone auf, darunter der am 23. September 1870 als erster aus der von deutschen Truppen belagerten Capitale ausfliegende „Neptune“ unter Führung durch Claude-Jules Duruof (1841-1898). Ihm folgten am 7. Oktober sowohl „L'Armand-Barbès“ als auch „Le George-Sand“ (Abb. 2), schließlich am 12. desselben Monats „Le Louis-Blanc“.
Da für die letztgenannten drei Ballone monochrome und lediglich für den „Neptune“ eine in farbigen Streifen abgesetzte Ballonhülle überliefert ist, dürfte es sich beim hier wiedergegebenen also um diesen handeln (Abb. 3). Nadars Aufnahme hingegen zeigt einen bereits befüllten Ballon augenscheinlich einfarbigen Tuches und rechts vielleicht eine weitere, noch am Boden liegende Hülle (Bild 2); die Photographie dürfte demnach am 7. Oktober 1870 anläßlich des Aufstiegs gleich zweier Ballone entstanden sein und – entgegen bislang üblicher Bezeichnung des Photos – eben nicht den „Neptune“ am 23. September zeigen. Das 1870 entstandene Gemälde „Départ de Léon Gambetta à bord de l’Armand-Barbès“, wohl unmittelbar nach der Entstehung der Photographie gemalt und ursprünglich Nadar selbst und später seinem Bruder Adrien Tournachon (gen. Nadar Jeune, 1825-1903) zugeschrieben, zeigt ebenfalls zwei, diesmal bereits beide befüllte Ballone einfarbigen Tuches (Abb. 4).
Nadar hatte bereits Anfang der 1860er Jahre Interesse an der Ballonfahrt entwickelt, in erster Linie zu innovativen Luft-Boden-Aufnahmen, aber auch in Hinblick auf eine Passagierbeförderung. Er selbst konstruierte den „Le Géant“ und setzte ihn bei Flugtests ein, wie sie sein jüngerer Bruder 1863 im Gemälde festhielt (Abb. 5): Die mißglückte Landung des „Le Géant" in Hannover, Ballonhülle sowie Netz zerrissenen und der Korb absturzbedroht. Mit Ausbruch des Französisch-Deutschen Krieges 1870-1871 schlug Nadar vor, Fesselballone zur Beobachtung feindlicher Manöver einzusetzen. Als Innenminister der Dritten Republik folgte Léon Gambetta (1838-1882) dem Vorschlag und beauftragte Nadar, den Ballonverkehr aus Paris zu organisieren. Eingangs des Krieges ließ die französische Armee schon am 17. September 1870 zur Feindbeobachtung aus der Luft vier Ballone über Paris aufsteigen; aufgrund schlechter Sichtverhältnisse konnten sie allerdings keine nutzbaren Informationen sammeln. Als die Kommunikationswege am Boden infolge des durch die deutschen Truppen geschlossenen Belagerungsringes unterbrochen und Paris so gut wie von der Außenwelt abgeschnitten war, setzten die Belagerten Gasballone für den Briefverkehr ein, um so mit dem Rest des Landes und schließlich mit der aus Paris weichenden Regierung in Kontakt zu bleiben. Dafür wurden zwei provisorische Fabriken an der Gare du Nord bzw. an der Gare d'Orléans errichtet, um schnell und kostengünstig Ballone zu fertigen, die wahlweise mit Heißluft oder Wasserstoff befüllt wurden. Die am Gare d'Orléans gefertigten Ballontücher waren verschiedenfarbig, die am Gare du Nord schlicht weiß. Die Montage der zwei Bauteile (Ballonhülle und -korb) untereinander übernahmen Seeleute, die dafür spezielle Netze knüpften. Der hier gezeigte Gasballon vom Typ „Barbès“, benannt nach dem republikanischen Revolutionär Armand Barbès (1809-1870), wurde vor allem für den Briefverkehr eingesetzt und konnte mit einer Zuladung von bis zu 125 Kilogramm aufsteigen. Er verhalf nicht nur Gambetta zum Entkommen nach Tours, sondern bis zum Kriegsende weiteren 164 Passagieren und fünf Hunden zur Flucht – letztere sollten mit Post beladen ins belagerte Paris zurückkehren, kamen dort jedoch nie an.
Abb.5
Adrien Tournachon
Traînage du Géant en Hanovre
1863
Öl auf Leinwand
Paris (Le Bourget), Musée de l'Air et de
l'Espace
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Die Rückseite des Gemäldes ist in dunkler Ölfarbe gehalten und auffallend groß mit dem Namen Zichy Jenös (1837-1906) als vermutlichem Vorbesitzer bezeichnet. Jenö gilt aufgrund des seinerseits finanzierten und stark vorangetriebenen industriellen Aufbaus Ungarns als dessen Nationalheld.
Bernd Ernsting