19.09.2014 09:00
Ernst Wenck (Reppen 1865 - 1929 Berlin)
Linos
1914
Bronze, mittel- bis dunkelbraun patiniert
78,5 x 59,9 x 47,6 cm
(Plastik inkl. Plinthe)
Inv.-Nr. 2014.151.1
Ernst Wenck schuf seinen "Sinkenden Jüngling" im Jahr 1914. Der erst nach Fertigstellung gegebene Titel "Linos" bezieht sich auf einen bereits in vorhomerischer Zeit bekannten Klagegesang über das tragische Todesschicksal eines schönen Jünglings, aus dem sich in der Überlieferung offensichtlich eine Personifikation der Klage entwickelte. Der Mythos machte aus ihm einen Sohn Apollons und der sterblichen Prinzessin Psamathe, der von seiner Mutter aus Furcht vor ihrem Vater ausgesetzt und durch wilde Hunde zerrissen wird; in anderer Version wird er als Sohn der Urania mit überragender musischer Begabung geschildert, der von Apollon aufgrund seiner Vermessenheit ihm gegenüber getötet wird. In jedem Fall gab Wenck durch den Titel eine Bedeutungserweiterung vom stürzenden zum sterbenden Jüngling, der in der Blüte seines Lebens aus selbigem gerissen wird.
Eine genauere zeitliche Eingrenzung des Entstehungszeitpunkts des Modells ist bislang ebensowenig möglich wie die damit zusammenhängende Klärung der Frage, ob hier ein bewußter Bezug zum Ersten Weltkrieg, namentlich dem sog. Langemarck-Mythos, hergestellt werden sollte. Letzterer entstand als verklärende Umdeutung des militärischen Mißerfolgs und massenhaften Todes junger, unerfahrener Rekruten bei der sog. Schlacht von Langemarck zum großen deutschen Opfergang der Jugend für das Vaterland. Ob "Linos" eine Reaktion auf diese Ereignisse vom 10. November 1914 und deren propagandistische Verarbeitung ist, muß zunächst offen bleiben, erscheint jedoch als mögliche Deutung. Laut Aufzeichnungen der Berliner Nationalgalerie, die am 21. Juli 1919 einen Guß des "Linos" vom Künstler im Austausch gegen ein zuvor angekauftes Werk erhielt, wollte Wenck lediglich ein Bild des Dahinsinkens der Naturgeschöpfe geben.
Ein unmittelbares antikes Vorbild zur plastischen Ausformung des "Linos" lässt sich zwar bisher nicht feststellen, doch gibt es auffallende Übereinstimmungen mit dem sog. "Betenden Knaben", einem spätklassischen oder frühhellenistischen Bronze-Jüngling, der zu den frühesten Erwerbungen Friedrichs des Großen für die Berliner Antikensammlung gehört. Vor allem das Armmotiv des Adoranten, welches zwar nachantik ergänzt, Wenck jedoch zweifellos in dieser Form bekannt gewesen ist, aber auch die Durchgestaltung des Jünglingskörpers scheinen bei Wenck weitergeführt, das Schreitmotiv zum spannungsvoll gehaltenen Sturz entwickelt. Letzterem verwandte Motive stürzender Jünglingsakte in heroischer Nacktheit finden sich nach dem Krieg variantenreich auf zahlreichen Grab- und Ehrenmälern, etwa bei Ludwig Habich, Fritz Klimsch u.a. Bereits 1911 schuf Wilhelm Gerstel einen unbekleideten fallenden Jüngling mit vor dem Körper erhobenen Händen ("Fallender Krieger"), dessen Komposition Georg Kolbe in einem "Stürzenden" für den Entwurf eines Kriegerdenkmals im Berliner Rathaus 1924 wieder aufnahm. Auch Wilhelm Lehmbrucks "Stürmender / Getroffener" von 1915/1916 scheint hier Anregungen erfahren zu haben, allerdings ist dessen Armmotiv zu einer Streckung nach oben verändert.
Bemerkenswert ist, daß Ernst Wenck trotz dieser "Konjunktur" stürzender Jünglinge offenbar nicht daran interessiert war, seinen "Linos" als Denkmalplastik für die Gefallenen des Weltkriegs zu bewerben - obwohl dessen Eignung für diesen Zweck bereits 1916 von August Grisebach ausdrücklich herausgestellt wurde - sondern stattdessen lediglich eine überarbeitete Version gänzlich anderen Charakters für ein privates Kriegergrabmal herstellte. Auf dem Friedhof St.-Annen in Berlin Dahlem entstand ein überlebensgroßes Grabmal aus Muschelkalkstein für Max Sering, das einen nach vorn stürzenden Krieger zeigt. Dieser ist mit einem Tuch bekleidet und erhält auch durch ein beigegebenes Schwert antikisierende Züge, die allerdings mittels eines zeitgenössischen Stahlhelms gebrochen bzw. modernisiert werden. Die Leichtigkeit des "Linos", dessen jugendliche Unschuld und idealische Nacktheit weichen einer materialbedingt blockhaften Gestaltung mit Stahlhelm und Schwert.
Bei dem nun in der Sammlung von LETTER Stiftung befindlichen Werk handelt es sich um den zweiten nachweisbaren Guß, der neben dem Exemplar in der Berliner Nationalgalerie bekannt ist.
Clemens Klöckner