Neuerwerbungen

Delinquent (Frankreich, Ende 18. Jh.)

01.02.2019 09:00

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Unbekannt

(Frankreich,

Ende 18. Jh.)

Delinquent

um 1794

Linde, rückseitig ausgehöhlt, Reste weißgrauer Fassung

55,6 x 37,7 x 25,5 cm 

Inv.-Nr. 2018.41

 

 

Diese Büste, nahezu Halbfigur, ist ein rätselhaftes Werk, kompositorisch wie stilistisch aus seiner Entstehungszeit fallend, kunsttechnisch eher spröde bis ungelenk wirkend. Es besteht im wesentlichen aus einem einzigen Stück Lindenholz, dem rechts ein separat geschnittenes Stück angefügt wurde; nur dadurch konnte das notwenige Volumen für beide Ellbogen angelegt werden. Die ungleichmäßige Aushöhlung der Rückseite, vielleicht auch eine zu geringe Ablagerungszeit des Stammes bedingte ein frühes Auftreten von Trocknungsrissen. Der Bildhauer – ersichtlich kein akademisch ausgebildeter – dürfte kaum Berufserfahrung im Schnitzen großvolumiger, vollrunder Holzwerkstücke besessen haben: Sonst hätte er zuvor den Werkblock aus verleimten Holzriegeln gebildet. Möglicherweise aber verfügte er über eine (kunst-)handwerkliche Praxis im flach geschnitzten, im ornamentalen und figurativen Innenraum- und Möbeldekor des ausgehenden 18. Jh.

 

Das Bildwerk ist – bis auf sein Thema – ein einziger Anachronismus. Dies mag zum einen aus der nicht bis nur gering vorhandenen künstlerischen Ausbildung seines Schöpfers resultieren, der wahrscheinlich nie das figurative Modellieren erlernte – sonst wäre eine Terracotta-Version um einiges leichter entstanden. Zugleich zeigen zentrale Motive einen offenbar bewußten Rückbezug auf ältere, nämliche mittelalterliche, und zwar auf sakrale Skulptur: Gerade der expressive Gestus beider Hände erinnert sowohl an den gebunden vor Pilatus geführten Jesus wie an die Darstellung heiliggesprochener Märtyrer, die in Gemälden und Bildwerken unter ähnlich ruhiger Statuarik figurieren.

 

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Ikonographisch wird es sich um die Darstellung eines Delinquenten unmittelbar vor der Hinrichtung mittels der Guillotine handeln, wozu alle überlieferten Vorbereitungen getroffen sind: Jacke und Hemd sind so weit geöffnet, wie damalige Etikette es in der Öffentlichkeit verbot. Die Kragen beider Kleidungsstücke sind weit nach hinten und gleichzeitig nach unten zurückgeschoben, um Hals und Nacken gänzlich freizulegen. Die Frisur ist nicht Perücke, sondern Echthaar des Delinquenten, und ist im Nacken abgeschnitten (womöglich „im Leben“ ein Zopf). All dies waren standardisierte Voraussetzungen zur Hinrichtung, damit das Fallbeil nicht durch dicke Haarsträhnen und durch Textil am glatten Durchtrennen des Nackens gehindert würde. Die Handhaltung verweist auf das Wechseln der Fesselung auf dem Schafott: Üblicherweise wurde dorthin der Delinquent mit vor dem Körper gebundenen Händen geführt; um ihn nunmehr in Bauchlage auf dem Wippbrett (frz. bascule) der Guillotine zu fixieren, mußten ihm die Hände zunächst entfesselt und dann entweder wieder auf dem Rücken oder seitlich ans Wippbrett gebunden werden. Die nahezu geschlossenen Augen und die leicht geöffneten Lippen vermitteln eindringlich das letzte Gebet (auch auf dem Höhepunkt staatlichen Terrors war die Begleitung der Delinquenten durch Geistliche bis zum Schafott möglich), die letzten Worte, einen letzten Seufzer des Todgeweihten. Parallelen zur Darstellung der letzten Worte Jesu am Kreuz sind evident.

 

Das Hemd des Delinquenten zeigt kunstvoll gerüschte Ärmel, vielleicht aus Spitze. Die anspruchsvolle Gewandung, die Frisur, die feingliedrigen Hände und die zarte Physiognomie legen die Vermutung nahe, es handele sich eher um einen Vertreter der gehobenen Stände des ausgehenden 18. Jh. als um einen Kleinbürger, Handwerker oder Bauern. Der Kleidung nach ist ein katholischer Kleriker (Erster Stand) auszuschließen, es bleiben also der Adel (Zweiter Stand) und das gehobene Bürgertum (Dritter Stand). Ehestens handelt es sich um ein Opfer des Terreur zwischen Anfang Juni 1793 und Ende Juli 1794, als Abertausende Franzosen zwecks Unterdrückung tatsächlicher – vielfach nur angeblicher – konterrevolutionärer Vergehen hingerichtet wurden; die meisten keineswegs in Paris, sondern in den Provinzstädten, besonders viele in Lyon, Nantes und in der Vendée. Beim vorliegenden Werk handelt es sich ohne Frage nicht um ein typologisches, sondern um ein Individualporträt. Versuche, den Dargestellten anhand von überlieferten, zumeist graphischen Bildnissen mit einem prominenten Hingerichteten zu identifizieren, blieben einstweilen ergebnislos.

 

Funktional diente die Skulptur jedenfalls als Memorialbildnis, entstanden unmittelbar zeitnah der Hinrichtung: Die künstlerisch wie kunsttechnisch anspruchslose Ausführung genügte dem eben nicht öffentlich repräsentativen Erinnerungszweck. Zumal wäre ein akademischer Bildhauer kaum das persönliche Risiko eingegangen, einen qua Hinrichtung öffentlich Geächteten ins Denkmal durch dessen Büste zu setzen – das Bild des Opfers als Affront gegenüber den Tätern. Dazu war eher ein oben angedeuteter Kunsthandwerker zu gewinnen, der dem Auftraggeberkreis womöglich sonstwie schon verpflichtet war (z.B. als Dekorateur von dessen Wohnräumen). Der schon aus Vorsichtsgründen sehr beschränkte Kreis der Rezipienten – politisch als Konspirateure sämtlich verdächtig und selbst durch staatliche Strafverfolgung bedroht – ist identisch mit demjenigen der Auftraggeber: Familie und engste Freunde des Dargestellten. Ihnen diente das Abbild zur trauernden Erinnerung. Wahrscheinlich war es nicht dauerhaft offen in einem Wohnraum des Alltagsgebrauchs aufgestellt, sondern wurde zu besonderen Tagen (Geburts- und / oder Todestag des Hingerichteten, sonstige Zusammenkünfte seiner Familie und Freunde) sichtbar gemacht. Alternativ könnte es in einem separaten Raum – der dadurch Sanktuariums- und Kapellen-Charakter erhielt – außerhalb der Alltagsnutzung installiert worden sein.

 

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Robespierre guillotinant le boureau après avoir fait guillot.r tous les Français

(Robespierre guillotiniert den Henker, nachdem er alle Franzosen hingerichtet hat)

Kupferstich

 

Ob der Holzschnitzer oder doch eher wer anders das Ereignis auf dem Richtplatz verfolgte und unmittelbar darauf graphisch skizzierte, bleibt offen. Die Gesichtszüge waren ohne weiteres einem zu (besseren) Lebzeiten entstandenen Porträt zu entnehmen, etwa der in allen gehobenen Kreisen jener Zeit üblichen Bildnisminiatur. Pose und Gestik hätten aufgrund von mündlichen Augenzeugenberichten komponiert werden können. Die ursprünglich weißgraue, in Resten noch sichtbare Fassung mochte Gips, aber auch Marmor imitieren; letzterer ist traditionell das bevorzugte Material zu Memorialbildnissen.

 

Bislang wurde im historischen Kontext der französischen Revolution weder in Malerei noch Graphik, geschweige denn in Skulptur und Plastik Vergleichbares bekannt. Sieht man von der angesprochenen christlichen Ikonographie ab, findet sich auch in der Historienmalerei vor 1800 keine Parallele zu dieser Darstellung eines zeitgenössischen Delinquenten in den letzten Augenblicken seines irdischen Daseins.

 

Bernd Ernsting

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