Neuerwerbungen

WIEDERENTDECKT: "Flüchtende Faune" von Otto Greiner

27.08.2018 09:00

Otto Greiner "Flüchtende Faune"

 

 

Otto Greiner (1869-1916)

Flüchtende Faune

um 1890

Öl auf Leinwand

40,0 x 109,0 cm

Inv.-Nr. 2018.140

 

 

Die wachsende Zivilisationskritik zum Ausgang des industrialisierten 19. Jahrhunderts teilten auch symbolistische Künstler wie Arnold Böcklin, Franz von Stuck und Max Klinger. Dessen sächsischer Landsmann und enger Freund Otto Greiner interpretierte die rasante Indienstnahme und Verdrängung natürlicher Lebensräume durch menschliches Ökonomiedenken in höchst origineller Weise: Zwei Faune aus der mythologischen Personnage um den Weingott Bacchus werden durch einen steinewerfenden Bauern der Moderne aus ihrem angestammten Biotop vertrieben; in dem wird nämlich nun gewerblich Gemüse angebaut. Das Goldene Zeitalter der Mythen muß der kalten Ratio eines vermeintlichen Fortschritts weichen – vielleicht ein Gewinn für Pragmatismus und Utilitarismus jener Jahrzehnte, ganz sicher aber ein Verlust für die Inspiration und Phantasie freier, kreativer Geister.

 

Otto Greiner (Leipzig 1869-1916 München) war selbst eine Art Flüchtling: Nach einer Leipziger Lithographenlehre – in dieser Technik sollte er zeitlebens als freier Graphiker brillieren und bis heute geschätzt werden – und Zeichenunterricht bei Arthur Haferkorn (mit dem er wie Max Klinger ein Leben lang befreundet blieb) studierte er 1888-1891 beim Münchner Akademie-Dozenten Alexander Liezen-Mayer. Eine erstmals 1891 unternommene Italien-Studienreise mündete 1898 in der Ansiedlung und 1906 Eheschließung in Rom. Mit Italiens Kriegseintritt im Mai 1915 mußte der Künstler als feindlicher Ausländer das ihm gelobte Land verlassen und verstarb, angeblich an gebrochenem Herzen, wenig später im Münchner Exil.

 

Das vergleichsweise kleine Gemälde dürfte 1890 als Studie zu jenem Monumentalformat (85 x 325 cm) entstanden sein, das Greiner im selben Jahr und auch zur Begleichung seiner Zeche für die Münchener Gastwirtschaft „Zum Achatz“ malte. Das Großgemälde kam später an den Schriftsteller Franz Langheinrich, und mit dem Nachlaß dieses gleichfalls gebürtigen Leipzigers (Greiner hatte den Freund samt Gattin 1901 lithographisch porträtiert) 1924 zur Auktion bei Karl & Faber in München – sein aktueller Verbleib ist unbekannt. Hingegen dürfte die kleine Version lange im familiären Umfeld von Greiners Akademie-Kommilitonen Ernst Oppler (Hannover 1867-1929 Berlin) verblieben sein. Der impressionistische Maler und geschätzte Radierer wurde später zwar auch zum Kunstsammler, doch dürfte er schon zeitnah zur Entstehung Greiners Werk besessen haben. Dessen Leipziger Gedächtnisausstellung verzeichnet Oppler 1917 als Leihgeber.

 

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Otto Greiner   Fliehende Faune  1889   Lithographie
Inv.-Nr. 47.1991

 

Bis zur 91. Versteigerung des Auktionshauses Mehlis in Plauen am 25. August 2018 verloren sich die Spuren der „Flüchtenden Faune“; die Signatur auf Lot 5076 wurde dort nicht entziffert. Aus guter Kenntnis des Gesamtwerkes Otto Greiners, der das Sujet außerdem wenigstens zweimal auch graphisch interpretierte, und anhand ihrer Forschungsdokumentationen gelang LETTER Stiftung die Identifizierung. Mit dem anschließenden Erwerb erfüllt sie wiederum ihren Satzungszweck, in mehrerlei Hinsicht bedeutende Kunstwerke heute oftmals vergessener Künstler zu bergen. Als museale Dauerleihgaben wie zu Wechselausstellungen stehen sie der Öffentlichkeit dauerhaft zur Verfügung.

 

Womöglich erfolgte die Einlieferung aus dem Familienumfeld Ernst Opplers (von dem die Stiftung über 80 graphische Blätter sammelte; von Greiner besitzt sie rund 60). Denn als Lot 4412 ebendort erwarb LETTER Stiftung das symbolistische Relief „Morte effugere nemo protest“ („Jugend, Alter, Zeit und Tod“, 1896) seines jüngeren Bruders Alexander (Hannover 1869-1937 Berlin): Den bronzierten Gipsabguß, in Details leicht von der versilberten Bronzeversion abweichend, bewahrt LETTER Stiftung schon seit 2012. Nunmehr sind Entwurf und Ausführung wieder vereint – doch dies ist dann eine andere Neuigkeit...

 

Bernd Ernsting

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