Neuerwerbungen

Georg Gelbke "Mich schaudert dieses Krieges!"

01.02.2021 09:00

Georg Gelbke "Mich schaudert dieses Krieges!"

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Georg Gelbke

(Rochlitz (Sachsen) 1882 - 1947 Dresden)

"Mich schaudert dieses Krieges!"

Ein Beitrag zur Kulturkritik

 

Folge von vier Federlithographien in Braun auf chamoisfarbenem Velin
sowie einer Federlithographie auf grauem Tonpapier (Titel),
alle Lithographien augenscheinlich im Umdruckverfahren
Dresden, Emil Richter, 1916 (Ex. 19/25)
48,9 x 32,4 cm (Titel) / 53,1 x 32,9 cm (Blätter max.)
Inv.-Nr. 2020.153

 

 

Just zum Erscheinen des 2012 begonnenen Kompendiums graphischer Zyklen zum Ersten Weltkrieg gelang LETTER Stiftung die Erwerbung dieser seltenen – und aufgrund des eindringlichen Titels für das Buch namengebenden – Folge. Sie stammt aus einer Chemitzer Privatsammlung, wohin sie aus dem Nachlaß von Karl Josef Friedrich (Dresden 1888 - 1965 Seifersdorf (Wachau)) gelangte. Der evangelische Geistliche Friedrich stand zeitweise in enger Verbindung zur „Künstlergruppe Chemnitz“, die der seit 1901 dort ansässige Georg Gelbke 1907 mitgegründet hatte. Gelbke und Friedrich waren befreundet; 1945 bewahrte die Auslagerung bei Friedrich in Seifersdorf (Landkreis Bautzen) Werke des Künstlers vor der Zerstörung im Dresdner Feuersturm.

 

„Mich schaudert dieses Krieges!“ ist nach „Der Tod im Kriege“ (1915 wohl im Selbstverlag veröffentlicht) Gelbkes zweite Graphikfolge zum Ersten Weltkrieg. Beide Werke thematisieren anhand allegorischer Aktszenen den überzeitlich grausamen Charakter des Krieges, ohne daß das ab 1914 stattfindende massenhaft-technisierte Töten ikonographisch konkretisiert würde. Gelbke selbst war aus gesundheitlichen Gründen vom Frontdienst befreit, schuf aber so militärisch konkrete Werke wie „Gefahrvolle Ballonlandung“, „Husaren und Flugzeug“ und „Platzende Granate“, zudem einige propagandakonforme Darstellungen wie „Großer Helden heilige Not“ für die durch die „Künstlergruppe Chemnitz“ herausgegebene Zeitschrift „Bilder aus Deutschlands Sturmzeit“ (2. Jg., 1915, H. 6 (o.n.A.), Abb. S. (1)).



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Blatt 3 Im Drahtverhau Hängende

 

Seine beiden Zyklen aber bleiben trotz aller Drastik motivisch vage. Lediglich der Drahtverhau auf dem Titelblatt sowie auf Blatt 3 von „Mich schaudert dieses Krieges!“ stellt einen aktuellen Bezug zum Ersten Weltkrieg her. Der Untertitel „Ein Beitrag zur Kulturkritik“ bezieht sich wahrscheinlich auf die im Oktober 1914 angestoßene „Kulturvolk“-Debatte: Als Reaktion auf die durch deutsche Kriegsverbrechen im neutralen Belgien ausgelöste internationale Empörung veröffentlichten 93 deutsche Geistesgrößen, darunter Künstler wie Bruno Paul und Max Liebermann, einen Aufruf an die Kulturwelt! Dieser begegnete dem Vorwurf des kriegshetzerischen Barbarentums mit der Behauptung, das Töten von Zivilisten und die Zerstörung historischer Bauten seien Akte der Selbstverteidigung gewesen. Er endet mit dem Schlachtruf: Glaubt, daß wir diesen Kampf zu Ende kämpfen werden als ein Kulturvolk, dem das Vermächtnis eines Goethe, eines Beethoven, eines Kant ebenso heilig ist wie sein Herd und seine Scholle.[1] Gelbke jedoch ergriff – indem er die Opfer nicht als Angehörige einer bestimmten Nation kenntlich machte – keineswegs Position, sondern prangerte generell den (...) im Grabenkrieg zutage tretenden Kultur- oder Zivilisationsverlust an.[2]

 

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Blatt 1
Von Ratten zerfressene Leiche
 
Blatt 2
Verschüttete und Erschlagene
 
Blatt 4
In der Wolfsgrube Aufgespießte

 

Abgesehen von dem nun durch LETTER Stiftung erworbenen ist derzeit nur ein weiteres Exemplar der in einer Auflage von 25 Exemplaren geplanten Folge bekannt. Dieser Abzug Nr. 1 aus dem Besitz des Kunstsammlers Heinrich Stinnes befindet sich heute in der „Sammlung Weltkrieg“ der Universitäts- und Landesbibliothek Münster. Allerdings fehlt dort die Titellithographie auf grauem Tonpapier, womöglich ein Fragment der ursprünglichen Mappe. Stinnes hatte die Folge laut Angaben auf seiner Mappe 1917 bei dem Dresdner Galeristen und Verleger Emil Richter zum Preis von 150 Mark erworben. Ein weiteres Exemplar befand sich in der Sammlung der Kunsthütte Chemnitz; es wurde 1937 im Rahmen der Aktion „Entartete  Kunst“ beschlagnahmt und später vernichtet.[3]

 

Petra Aescht



[1] Der Aufruf der 93 „An die Kulturwelt!" (1914); in: Themenportal Europäische Geschichte, 2006 / www.europa.clio-online.de/quelle/id/q63-28308 (Aufruf 2.2.2021).

[2] Artinger, Kai: Die Schreckensbilder des Georg Gelbke. Ein Künstler des Kaiserreichs zeichnet den Ersten Weltkrieg; in: Kunstgeschichte. Open Peer Reviewed Journal 2016, S. 1-33, Zitat S. 29 / www.kunstgeschichte-ejournal.net/486/ (Aufruf 2.2.2021).

[3] „Entartete Kunst“. Digitale Reproduktion eines maschinenschriftlichen Inventars, erstellt durch das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda ca. 1941-1942, London, Victoria & Albert Museum, Januar 2014 (V&A NAL MSL/1996/7), Bd. 1, „Kunsthütte Chemnitz“, S. 2, Nr. 47-50 / www.vam.ac.uk/entartetekunst (Aufruf 2.2.2021).

 

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